Nach dem die Blau Weiß Rote Hilfe Mitte Dezember 2014 den Prozessauftakt gegen die Mitglieder des Beşiktaş-Fanclubs Çarşı verfolgten, entschloss sich eine Delegation der Schwarz-Gelben Hilfe, den zweiten Prozesstag in Istanbul zu beobachten. Da in der deutschen Medienlandschaft dieser europaweit bisher einzigartige Prozess nur unter ausgewählten Nachrichtenmagazinen Beachtung erfuhr, erläutern wir zunächst noch einmal einige Fakten:
Im Sommer 2013 kam es in der Türkei zu landesweiten Protesten gegen die autoritäre Regierung der Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung — AKP) um Parteichef Recep Tayyip Erdoğan. Auslöser waren u.a. die polizeilichen Übergriffe auf ein Protestcamp gegen den Umbau bzw. Abriss des Gezi-Parks. Dieser liegt unweit des Taksim-Platzes im Herzen der türkischen Metropole Istanbul. Infolge dieser Proteste, die bis Anfang September 2013 anhielten, kamen laut der Menschenrechtsorganisation FIDH mindestens sechs Menschen durch unmittelbare Polizeigewalt und drei weitere durch die Einwirkungen von Tränengas ums Leben. Bis heute gelten, laut Amnesty International, noch immer etwa 70 Menschen als vermisst. Menschen, die zuvor von der Polizei festgenommen worden waren. Eine große Rolle an den Protesten in Istanbul sollen dabei Fußballfans der drei großen Vereine (Beşiktaş, Galatasaray und Fenerbahçe) gespielt haben. Teile dieser Fangruppen hatten sich gemeinsam den Protesten angeschlossen, als die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei an Intensivität zunahmen.
Doch schon weit vor diesen landesweiten Protesten gab es Ermittlungen gegen die Gruppe Çarşı, der wichtigsten Fanvereinigung von Beşiktaş. Die Auseinandersetzungen rund um den Taksim-Platz kamen dabei sehr gelegen und so kam es, dass sich zum ersten Mal in der Geschichte des Fußballs Mitglieder eines Fanclubs der Anklage ausgesetzt sahen, eine Regierung stürzen zu wollen. Das Gericht in der Bosporusmetropole hatte Mitte Dezember 2014 schließlich Anklage gegen 35 Personen erhoben. Der Vorwurf war und ist, wie bereits erwähnt, die führende Partei AKP und Erdogan stürzen zu wollen. Die Staatsanwaltschaft strebt eine Verurteilung für die 35 Angeklagten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe an. Weitere Anklagepunkte lauten auf „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Gruppe“, „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“, „illegale Versammlung“ und „unerlaubten Waffenbesitz“.
Im Vorfeld des zweiten Prozesstages kam es zu außergewöhnlichen Ereignissen in der Türkei bzw. Istanbul. Ein landesweiter Stromausfall legte nicht nur das Land lahm, sondern erschwerte auch die Anreise. Zwei Tage vor dem Prozess drangen zudem als Anwälte verkleidete Geiselnehmer der linksradikalen DHKP‑C in das zentrale Gerichtsgebäude ein und nahmen einen Staatsanwalt in ihre Gewalt. Der Staatsanwalt war Hauptankläger im Fall des bislang ungeklärten Todes des erst 14 Jahre alten Berkin Elvans. Dieser war während der Proteste im Sommer 2013 durch eine von der Polizei abgefeuerte Tränengasgranate am Kopf getroffen worden, als er unterwegs zum Bäcker war. Für seinen Tod musste sich bislang niemand vor Gericht verantworten. Die Geiselnahme endete blutig, sowohl Staatsanwalt, als auch die zwei Geiselnehmer starben. Am Tag darauf beschoss eine schwer bewaffnete Frau die Polizeizentrale in Istanbul. Die Polizisten erwiderten das Feuer und töteten die 28-jährige Angreiferin.
Trotz all dieser Vorkommnisse zuvor fand der zweite Prozesstag für uns überraschenderweise statt. Vor dem zentralen Gerichtsgebäude wurden im Vorfeld keine ersichtlichen Sicherheitsvorkommnisse getroffen, nur der Einlass glich dem einer Flughafenkontrolle. Auch die Anwälte mussten sich diesem Prozedere unterziehen, was zu einigen Wortgefechten und Handgreiflichkeiten mit den Justizbeamten führte. Im Gebäude erinnerten ein großes Spruchband und Blumengestecke an den Vorfall wenige Tage zuvor. Nach Information unserer Begleiter wurden Fanartikel von Çarşı oder Beşiktaş im Gerichtgebäude ebenso verboten, wie auch Gesänge. Insgesamt war die Situation sehr angespannt. An jeder Ecke formierten sich Justizbeamte in Uniform oder zivil.
In der Kantine traf man auf weitere unabhängige Beobachter des Prozesses. Neben einigen deutschen Anwälten und Vertretern von Amnesty International traf man auch auf einen Bundestagsabgeordneten der Grünen. Gegen 10 Uhr sollte der Prozess schließlich beginnen. Vor dem Gang zum Gerichtssaal sammelten sich etwa 50 Anhänger von Beşiktaş, von denen einige dem oben genannten Verbot trotzten und mit Schal und Trikot erschienen. Gab es beim ersten Prozesstag im Dezember noch große Proteste vor dem Gerichtsgebäude, wurden sie an diesem Tag seitens Çarşı abgesagt. Zu groß wäre die Gefährdung aller Teilnehmenden gewesen. Bei einer möglichen Demonstration hätte man nach den Ereignissen der letzten Tage mit keinem zimperlichen Umgang der türkischen Sicherheitskräfte rechnen müssen.
Nachdem allen geladenen und akkreditieren Gästen des Prozesses Einlass gewährt wurde, begann nun das Gedrängel des Volkes — und wir mittendrin! Als wir den Saal erreichten und Platz nahmen, war der Prozess bereits im vollen Gange. Die am ersten Prozesstag begonnene Befragung der Beschuldigten wurde fortgesetzt. Einer der Anführer von Çarşı, Ayhan Güner, stellte sich bei seiner Befragung vor alle anderen Angeklagten und erklärte, wenn man ihnen eine Schuldigkeit nachweisen könne, so sollte nur er die Haftstrafen bekommen, alle anderen wären freizusprechen!
Bei einer Hausdurchsuchung gefundene und angeschwärzte PET-Flasche wurde als vermeintliche Bombenbasteleien enttarnt. Fotos, auf denen einige Çarşı-Angeklagte auf einem Bagger posierten, wurden als versuchter Angriff auf ein Ministeriumsgebäude gewertet. Kurz nach Erhebung der Vorwürfe wurden diese aber teilweise schon wieder entkräftet. So entpuppte sich die angebliche Bombe als selbst gebastelte Bon und auch das Foto mit dem Bagger wurde nicht etwa bei den Protesten, sondern beim feierlichen Abriss einer Tribüne des Inönü-Stadions von Beşiktaş geschossen. Daraufhin brach nicht nur der Gerichtsaal kurzzeitig in Gelächter aus, auch die drei vorsitzenden Richter konnten sich bei einigen der Äußerungen ein Lachen nicht verkneifen.
Danach wurden einige der bei den Protesten verletzten Polizisten als Zeugen befragt. Diese wurden zwar durch Demonstranten geschädigt, konnten sich aber an keinen der Angeklagten erinnern. Ein Beamter höheren Ranges sagte sogar aus, dass man sich mit der Führungsriege der Çarşı während der Gezi-Proteste zusammengefunden und beraten hatte, wie man die Demonstrationen wieder in friedliche Bahnen lenken könne. Anschließend kam es zu einer Reihe von Anträgen der Anwälte bzw. der Staatsanwälte. Die Richter entschieden daraufhin, den Prozess nach einer Dauer von ca. drei Stunden auf den 26. Juni zu vertagen. Alle Angeklagten blieben, wie schon zuvor, auf freiem Fuß.
Für uns schien es, als ob die Anklage, die u.a. auf “versuchtem Umsturz des Staates” lautet, einige Lücken und Ungereimtheiten aufweist. Es erschien ebenfalls erstaunlich, wie mit den bisher vorgelegten Beweisen bzw. aufgeführten Zeugen überhaupt eine Anklage zugelassen werden konnte. Eine große Rolle in dem Prozess scheint der türkische Staat selbst zu spielen, der sich einmal mehr mit dem Vorwurf auseinandersetzen muss, damit einige unliebsame Oppositionsgruppen des Landes und Fanszenen aus dem Weg zu schaffen. Eines der Hintergründe dürfte die in den letzten Jahren begonnene repressive Politik in den Stadien und die damit verbundene Einführung der landesweiten Fancard “Passilog” sein.
Inwieweit der Prozesstag eine für die angeklagten Beşiktaş-Anhänger Anlass zur Hoffnung gegeben hat, lässt sich aus unserer Sicht nur schwer beurteilen. Zwar sind alle Personen immer noch auf freiem Fuß und auch die angeführten Beweise sprechen eindeutig gegen die Anklage, dennoch ist unklar, in welche Richtung sich der Prozess entwickeln wird. Gegen einen objektiven Prozess sprechen Unterschiede, die hierzulande undenkbar sind. So sind in der Türkei die dem Prozess vorsitzenden Richter nicht an ihre Verfahren gebunden, sondern können von Prozesstag zu Prozesstag beliebig ausgetauscht werden. Eine Beständigkeit der Prozessführung ist unter solchen Umständen ebenso wenig gegeben, wie ein faires Verfahren.
Wir, die Schwarz-Gelbe Hilfe, werden dieses Verfahren gegen die Anhänger von Beşiktaş weiterhin verfolgen und dies mit einem kritischen Auge betrachten. Ein großes Dankeschön von unserer Seite geht an Elif, die uns tatkräftig am Prozesstag übersetzt und unterstützt hat. Des Weiteren möchten wir Nas und Freddy vom Filmprojekt “Geisterspiel / Boş tribünler” für die Begleitung während der gesamten Tage danken.
Eure Schwarz-Gelbe Hilfe