Bericht aus Istan­bul über den zwei­ten Pro­zess­tag gegen Beşiktaş-Anhänger

22 Apr 2015 | Allgemein, Blick über den Tellerrand

Nach dem die Blau Weiß Rote Hilfe Mitte Dezem­ber 2014 den Pro­zess­auf­takt gegen die Mit­glie­der des Beşiktaş-Fanclubs Çarşı ver­folg­ten, ent­schloss sich eine Dele­ga­tion der Schwarz-Gelben Hilfe, den zwei­ten Pro­zess­tag in Istan­bul zu beob­ach­ten. Da in der deut­schen Medi­en­land­schaft die­ser euro­pa­weit bis­her ein­zig­ar­tige Pro­zess nur unter aus­ge­wähl­ten Nach­rich­ten­ma­ga­zi­nen Beach­tung erfuhr, erläu­tern wir zunächst noch ein­mal einige Fakten:

Im Som­mer 2013 kam es in der Tür­kei zu lan­des­wei­ten Pro­tes­ten gegen die auto­ri­täre Regie­rung der Ada­let ve Kal­kınma Par­tisi (Par­tei für Gerech­tig­keit und Ent­wick­lung — AKP) um Par­tei­chef Recep Tayyip Erdoğan. Aus­lö­ser waren u.a. die poli­zei­li­chen Über­griffe auf ein Pro­test­camp gegen den Umbau bzw. Abriss des Gezi-Parks. Die­ser liegt unweit des Taksim-Platzes im Her­zen der tür­ki­schen Metro­pole Istan­bul. Infolge die­ser Pro­teste, die bis Anfang Sep­tem­ber 2013 anhiel­ten, kamen laut der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion FIDH min­des­tens sechs Men­schen durch unmit­tel­bare Poli­zei­ge­walt und drei wei­tere durch die Ein­wir­kun­gen von Trä­nen­gas ums Leben. Bis heute gel­ten, laut Amnesty Inter­na­tio­nal, noch immer etwa 70 Men­schen als ver­misst. Men­schen, die zuvor von der Poli­zei fest­ge­nom­men wor­den waren. Eine große Rolle an den Pro­tes­ten in Istan­bul sol­len dabei Fuß­ball­fans der drei gro­ßen Ver­eine (Beşik­taş, Gala­ta­sa­ray und Fener­bahçe) gespielt haben. Teile die­ser Fan­grup­pen hat­ten sich gemein­sam den Pro­tes­ten ange­schlos­sen, als die Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Demons­tran­ten und der Poli­zei an Inten­si­vi­tät zunahmen.

Doch schon weit vor die­sen lan­des­wei­ten Pro­tes­ten gab es Ermitt­lun­gen gegen die Gruppe Çarşı, der wich­tigs­ten Fan­ver­ei­ni­gung von Beşik­taş. Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen rund um den Taksim-Platz kamen dabei sehr gele­gen und so kam es, dass sich zum ers­ten Mal in der Geschichte des Fuß­balls Mit­glie­der eines Fan­clubs der Anklage aus­ge­setzt sahen, eine Regie­rung stür­zen zu wol­len. Das Gericht in der Bos­po­rus­me­tro­pole hatte Mitte Dezem­ber 2014 schließ­lich Anklage gegen 35 Per­so­nen erho­ben. Der Vor­wurf war und ist, wie bereits erwähnt, die füh­rende Par­tei AKP und Erdo­gan stür­zen zu wol­len. Die Staats­an­walt­schaft strebt eine Ver­ur­tei­lung für die 35 Ange­klag­ten zu einer lebens­lan­gen Frei­heits­strafe an. Wei­tere Ankla­ge­punkte lau­ten auf „Mit­glied­schaft in einer bewaff­ne­ten Gruppe“, „Wider­stand gegen Voll­stre­ckungs­be­amte“, „ille­gale Ver­samm­lung“ und „uner­laub­ten Waffenbesitz“.

Im Vor­feld des zwei­ten Pro­zess­ta­ges kam es zu außer­ge­wöhn­li­chen Ereig­nis­sen in der Tür­kei bzw. Istan­bul. Ein lan­des­wei­ter Strom­aus­fall legte nicht nur das Land lahm, son­dern erschwerte auch die Anreise. Zwei Tage vor dem Pro­zess dran­gen zudem als Anwälte ver­klei­dete Gei­sel­neh­mer der links­ra­di­ka­len DHKP‑C in das zen­trale Gerichts­ge­bäude ein und nah­men einen Staats­an­walt in ihre Gewalt. Der Staats­an­walt war Haupt­an­klä­ger im Fall des bis­lang unge­klär­ten Todes des erst 14 Jahre alten Ber­kin Elvans. Die­ser war wäh­rend der Pro­teste im Som­mer 2013 durch eine von der Poli­zei abge­feu­erte Trä­nen­gas­gra­nate am Kopf getrof­fen wor­den, als er unter­wegs zum Bäcker war. Für sei­nen Tod musste sich bis­lang nie­mand vor Gericht ver­ant­wor­ten. Die Gei­sel­nahme endete blu­tig, sowohl Staats­an­walt, als auch die zwei Gei­sel­neh­mer star­ben. Am Tag dar­auf beschoss eine schwer bewaff­nete Frau die Poli­zei­zen­trale in Istan­bul. Die Poli­zis­ten erwi­der­ten das Feuer und töte­ten die 28-jährige Angreiferin.

Trotz all die­ser Vor­komm­nisse zuvor fand der zweite Pro­zess­tag für uns über­ra­schen­der­weise statt. Vor dem zen­tra­len Gerichts­ge­bäude wur­den im Vor­feld keine ersicht­li­chen Sicher­heits­vor­komm­nisse getrof­fen, nur der Ein­lass glich dem einer Flug­ha­fen­kon­trolle. Auch die Anwälte muss­ten sich die­sem Pro­ze­dere unter­zie­hen, was zu eini­gen Wort­ge­fech­ten und Hand­greif­lich­kei­ten mit den Jus­tiz­be­am­ten führte. Im Gebäude erin­ner­ten ein gro­ßes Spruch­band und Blu­men­ge­ste­cke an den Vor­fall wenige Tage zuvor. Nach Infor­ma­tion unse­rer Beglei­ter wur­den Fan­ar­ti­kel von Çarşı oder Beşik­taş im Gericht­ge­bäude ebenso ver­bo­ten, wie auch Gesänge. Ins­ge­samt war die Situa­tion sehr ange­spannt. An jeder Ecke for­mier­ten sich Jus­tiz­be­amte in Uni­form oder zivil.

In der Kan­tine traf man auf wei­tere unab­hän­gige Beob­ach­ter des Pro­zes­ses. Neben eini­gen deut­schen Anwäl­ten und Ver­tre­tern von Amnesty Inter­na­tio­nal traf man auch auf einen Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten der Grü­nen. Gegen 10 Uhr sollte der Pro­zess schließ­lich begin­nen. Vor dem Gang zum Gerichts­saal sam­mel­ten sich etwa 50 Anhän­ger von Beşik­taş, von denen einige dem oben genann­ten Ver­bot trotz­ten und mit Schal und Tri­kot erschie­nen. Gab es beim ers­ten Pro­zess­tag im Dezem­ber noch große Pro­teste vor dem Gerichts­ge­bäude, wur­den sie an die­sem Tag sei­tens Çarşı abge­sagt. Zu groß wäre die Gefähr­dung aller Teil­neh­men­den gewe­sen. Bei einer mög­li­chen Demons­tra­tion hätte man nach den Ereig­nis­sen der letz­ten Tage mit kei­nem zim­per­li­chen Umgang der tür­ki­schen Sicher­heits­kräfte rech­nen müssen.

Nach­dem allen gela­de­nen und akkre­di­tie­ren Gäs­ten des Pro­zes­ses Ein­lass gewährt wurde, begann nun das Gedrän­gel des Vol­kes — und wir mit­ten­drin! Als wir den Saal erreich­ten und Platz nah­men, war der Pro­zess bereits im vol­len Gange. Die am ers­ten Pro­zess­tag begon­nene Befra­gung der Beschul­dig­ten wurde fort­ge­setzt. Einer der Anfüh­rer von Çarşı, Ayhan Güner, stellte sich bei sei­ner Befra­gung vor alle ande­ren Ange­klag­ten und erklärte, wenn man ihnen eine Schul­dig­keit nach­wei­sen könne, so sollte nur er die Haft­stra­fen bekom­men, alle ande­ren wären freizusprechen!

Bei einer Haus­durch­su­chung gefun­dene und ange­schwärzte PET-Flasche wurde als ver­meint­li­che Bom­ben­bas­te­leien ent­tarnt. Fotos, auf denen einige Çarşı-Angeklagte auf einem Bag­ger posier­ten, wur­den als ver­such­ter Angriff auf ein Minis­te­ri­ums­ge­bäude gewer­tet. Kurz nach Erhe­bung der Vor­würfe wur­den diese aber teil­weise schon wie­der ent­kräf­tet. So ent­puppte sich die angeb­li­che Bombe als selbst gebas­telte Bon und auch das Foto mit dem Bag­ger wurde nicht etwa bei den Pro­tes­ten, son­dern beim fei­er­li­chen Abriss einer Tri­büne des Inönü-Stadions von Beşik­taş geschos­sen. Dar­auf­hin brach nicht nur der Gericht­saal kurz­zei­tig in Geläch­ter aus, auch die drei vor­sit­zen­den Rich­ter konn­ten sich bei eini­gen der Äuße­run­gen ein Lachen nicht verkneifen.

Danach wur­den einige der bei den Pro­tes­ten ver­letz­ten Poli­zis­ten als Zeu­gen befragt. Diese wur­den zwar durch Demons­tran­ten geschä­digt, konn­ten sich aber an kei­nen der Ange­klag­ten erin­nern. Ein Beam­ter höhe­ren Ran­ges sagte sogar aus, dass man sich mit der Füh­rungs­riege der Çarşı wäh­rend der Gezi-Proteste zusam­men­ge­fun­den und bera­ten hatte, wie man die Demons­tra­tio­nen wie­der in fried­li­che Bah­nen len­ken könne. Anschlie­ßend kam es zu einer Reihe von Anträ­gen der Anwälte bzw. der Staats­an­wälte. Die Rich­ter ent­schie­den dar­auf­hin, den Pro­zess nach einer Dauer von ca. drei Stun­den auf den 26. Juni zu ver­ta­gen. Alle Ange­klag­ten blie­ben, wie schon zuvor, auf freiem Fuß.

Für uns schien es, als ob die Anklage, die u.a. auf “ver­such­tem Umsturz des Staa­tes” lau­tet, einige Lücken und Unge­reimt­hei­ten auf­weist. Es erschien eben­falls erstaun­lich, wie mit den bis­her vor­ge­leg­ten Bewei­sen bzw. auf­ge­führ­ten Zeu­gen über­haupt eine Anklage zuge­las­sen wer­den konnte. Eine große Rolle in dem Pro­zess scheint der tür­ki­sche Staat selbst zu spie­len, der sich ein­mal mehr mit dem Vor­wurf aus­ein­an­der­set­zen muss, damit einige unlieb­same Oppo­si­ti­ons­grup­pen des Lan­des und Fan­sze­nen aus dem Weg zu schaf­fen. Eines der Hin­ter­gründe dürfte die in den letz­ten Jah­ren begon­nene repres­sive Poli­tik in den Sta­dien und die damit ver­bun­dene Ein­füh­rung der lan­des­wei­ten Fan­card “Pas­si­log” sein.

Inwie­weit der Pro­zess­tag eine für die ange­klag­ten Beşiktaş-Anhänger Anlass zur Hoff­nung gege­ben hat, lässt sich aus unse­rer Sicht nur schwer beur­tei­len. Zwar sind alle Per­so­nen immer noch auf freiem Fuß und auch die ange­führ­ten Beweise spre­chen ein­deu­tig gegen die Anklage, den­noch ist unklar, in wel­che Rich­tung sich der Pro­zess ent­wi­ckeln wird. Gegen einen objek­ti­ven Pro­zess spre­chen Unter­schiede, die hier­zu­lande undenk­bar sind. So sind in der Tür­kei die dem Pro­zess vor­sit­zen­den Rich­ter nicht an ihre Ver­fah­ren gebun­den, son­dern kön­nen von Pro­zess­tag zu Pro­zess­tag belie­big aus­ge­tauscht wer­den. Eine Bestän­dig­keit der Pro­zess­füh­rung ist unter sol­chen Umstän­den ebenso wenig gege­ben, wie ein fai­res Verfahren.

Wir, die Schwarz-Gelbe Hilfe, wer­den die­ses Ver­fah­ren gegen die Anhän­ger von Beşik­taş wei­ter­hin ver­fol­gen und dies mit einem kri­ti­schen Auge betrach­ten. Ein gro­ßes Dan­ke­schön von unse­rer Seite geht an Elif, die uns tat­kräf­tig am Pro­zess­tag über­setzt und unter­stützt hat. Des Wei­te­ren möch­ten wir Nas und Freddy vom Film­pro­jekt “Geis­ter­spiel / Boş tri­bün­ler” für die Beglei­tung wäh­rend der gesam­ten Tage danken.
Eure Schwarz-Gelbe Hilfe

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